Die schönsten Zeilen aus der Welt der Literatur

Essenzen 6

»Du meinst, ich soll immer jung bleiben?«
»Nein. Jung bleiben kann jeder Depp, selbst wenn er auf Krücken hinkt und aus der Schnabeltasse trinken muss. Schau dir Archie an. Obwohl er sich gebärdet wie ein Jugendlicher, auf Facebook und MySpace ist und sich keine Jacke ohne Kapuze überstülpt, ist doch letzten Endes ein alter Trottel. In Wahrheit ist er gealtert, weil er das Alter an sich herangelassen hat. Das geschieht dadurch am effektivsten, indem man blindlings die Insignien der Jugend übernimmt, ohne etwas über das geheime Leben der wirklich Jungen zu wissen. Nicht altern heißt aber, immer der zu bleiben, der man war. […]«

— Akif Pirinçci, Felipolis

Essenzen 5

Seine ganze Kindheit hindurch hatte er erlebt, wie doppelbödig die Leute mit Gott hantierten. Seine Eltern taten noch heute nach außen hin so fromm, wie es in der Gemeinde opportun war, aber in Wirklichkeit führten sie ein Leben, das unbeeindruckt war von den Lehren der Religion, der anzugehören sie vorgaben. Ein guter Christ sein hieß, an Weihnachten in die Kirche zu gehen und für wohltätige Zwecke zu spenden, wenn es sich nicht vermeiden ließ, und auch dann nur so viel wie nötig, um nicht unangenehm aufzufallen. […]

Religion, das war für seine Eltern, und überhaupt für alle Leute die er kannte, eine Art Regenschirm. Bei schönem Wetter denkt man überhaupt nicht an seinen Regenschirm. Erst wenn es regnet, fällt er einem wieder ein. Aber wirklich glauben — das tat niemand, den er kannte.

— Andreas Eschbach, Das Jesus Video

Essenzen 4

Willst du einen sogenannten Philosophen den Mund stopfen, wenn er dir sagt, in unserem Leben sei die Summe der Leiden grösser als die der Freuden, so frage ihn nur, ob er ein Leben haben wolle, worin es weder die einen noch die anderen gebe. Er wird dir nicht antworten oder er wird Ausflüchte machen; denn wenn er die Frage verneint, so liebt er das Leben so wie es ist, und wenn er es liebt, so findet er es also angenehm; angenehm aber könnte es nicht sein, wenn es lästig wäre. Wenn er aber die Frage bejaht, so gesteht er, dass er ein Dummkopf ist; denn dann muss er das Vergnügen in der Gleichgültigkeit erblicken, und das ist Unsinn.

Leiden ist untrennbar verbunden mit der menschlichen Natur; aber wir werden niemals leiden, ohne Hoffnung auf Heilung zu hegen, oder zum mindesten kann dieser Fall nur sehr selten vorkommen; Hoffnung aber ist eine Freude.

— Giacomo Casanova, Erinnerungen, Bd. II.

Essenzen 3

Wahre Liebe ist langweilig, wie jede andere starke und süchtig machende Droge — sobald die Geschichte von Begegnung und Entdeckung erzählt ist, werden Küsse schnell schal und Zärtlichkeiten ermüdend […] außer natürlich für diejenigen, die sich küssen, zärtlich zueinander sind, während jedes Geräusch und jede Farbe der Welt um sie herum tiefer und leuchtender zu werden scheint. Und wie bei jeder anderen starken Droge ist die wahre erste Liebe wirklich nur für diejenigen interessant, die deren Gefangene geworden sind.

Und was ebenfalls auf jede andere starke und süchtig machende Droge zutrifft, wahre erste Liebe ist gefährlich.

— Stephen King, Glas

Essenzen 2

René warf sich auf sie wie ein Räuber auf eine Gefangene, und sie wurde mit Wonne seine Gefangene, spürte an ihren Handgelenken, ihren Fußknöcheln, an allen Gliedern und selbst an den verborgensten Stellen ihres Körpers die Bande, die unsichtbarer waren als das feinste Haar, kräftiger als die Seile, mit denen die Liliputaner Gulliver gefesselt hatten, und die ihr Geliebter mit einem einzigen Blick anzog oder löste.

Sie war nicht mehr frei? Ah! Gott sei Dank, sie war nicht mehr frei.

Aber sie fühlte sich leicht, Göttin auf der Wolke, Fisch im Wasser, verloren im Glück. Verloren, weil diese feinen Haare, diese Stricke, die René alle in seiner Hand hielt, das einzige Kraftnetz waren, durch das seither der Strom ihres Lebens floß.

— Pauline Réage, Geschichte der O

Essenzen 1

Ich weine alleine in der Nacht, und wenn ich lache, ist es das Lachen eines Wahnsinnigen, der, von allen verlassen, über sein grauenhaftes Schicksal nur noch irre lachen kann. Ich sehne mich nach meinen Brüdern und Schwestern, Francis, mehr als nach dem Leben. Der Tod soll mir wilkommen sein […]

Ich verfluche die Menschen, die mir, meiner Rasse, das angetan haben. Ich verfluche alle Menschen. Und ich verfluche ihren Gott, der sie erschaffen hat. Die einzige Möglichkeit, wie er seine Existenz unter Beweis stellen könnte, wäre, sie mit Stumpf und Stiel wieder auszurotten. Weißt du, was die Welt dann wirklich sein würde, Francis?

Das Paradies”, antwortete ich.

— Akif Pirinçci, Francis